Missbrauch: Wo keine Täter, da auch keine Opfer

Warum wurden Missbrauchstäter nicht dingfest gemacht, sondern ihre Taten verschwiegen und übersehen? Weil die Kirche meint, sie müsse eine perfekte, sündenfreie Gegenwelt darstellen. Dieses Selbstbild verlangt, den Missbrauch zu leugnen und die Täter nur zu versetzen. Wer die Täter versteckt, kann den Opfern nicht gerecht werden. Wo kein Täter, da auch keine Opfer.

Gott fragt Kain nach seiner Tat, Kathedrale von Autun (Foto: publicatio e.V./E.B.)

Die Kirche rechnet mit Priestern, die unwürdig sind

In der katholischen Dogmatik gilt bei den Sakramenten der lateinische Lehrsatz: „Ex opere operato“ – „durch die vollzogene Handlung“. Das bedeutet, die Gültigkeit oder Wirksamkeit der Handlung, also etwa des gespendeten Sakraments, hängt ausdrücklich nicht von der inneren Einstellung oder der Würdigkeit des Spenders ab, sondern von der in seinem Sinne vollzogenen Handlung. Dazu ein konkretes Beispiel aus meinem persönlichen Umfeld: An meiner ehemaligen Schule gab es 20 Jahre vor meiner Schulzeit einen Jesuiten, von dem 2010 bekannt wurde, dass er als Gymnasiallehrer in den Jahren um 1980 Schüler systematisch missbrauchte, vor allem Jungs im präpubertären und pubertären Alter. Laut eigenen Aussagen offenbarte sich der Mann gegenüber seinen Vorgesetzten in der Kirche und bat um Hilfe. Er erhielt zwar Psychotherapien, noch vor seiner Priesterweihe wurde ihm aber auch gesagt – gab er 2010 zu Protokoll –, durch die Gnade seiner Weihe würden seine Neigungen und Probleme dann schon in Ordnung kommen. Später bat er um Entlassung aus dem priesterlichen Dienst. Erst 30 Jahre später erfuhr die Öffentlichkeit von seinen Taten. Zu seiner aktiven Zeit als Priester hatte er auch Kinder aus meinem Bekanntenkreis getauft. Waren und sind diese Taufen denn nun eigentlich gültig, könnte man sich fragen. Oder die Eheschließungen, bei denen er assistiert hat? Wirken die Sakramente, die er gespendet hat, die Messen die er gefeiert hat – oder auch die Lossprechungen von Sünden in den Beichten, die er gehört hat? Er war doch selbst offenkundig ein schlimmer Sünder. Wie können dann die heiligen Akte, die er vollzogen hat, wirksam sein?

Nicht der Priester bewirkt die Sakramente

Jesus Christus selbst wirkt durch seinen Geist in den Sakramenten. Der Priester steht zwar stellvertretend für Christus, repräsentiert ihn, der eigentliche Spender des Sakraments ist aber Christus. Gott wirkt durch den Priester. Alles andere wäre eine gigantische Überforderung. Denn Jesus war laut katholischer Lehre frei von jeder Sünde. Das kann aber kein Mensch und kein Priester jemals sein, auch ohne zum Missbrauchstäter geworden zu sein. Aber warum hat die katholische Kirche dann über Jahrzehnte die Sünden ihrer Geistlichen versteckt, verheimlicht, vertuscht – in einem solchen Ausmaß, dass sich stattdessen deren Opfer oft Jahrzehnte lang schuldig, eben sündig gefühlt und geschämt haben? Warum grenzt die katholische Kirche bis heute Menschen aus, deren Verhalten sie für sündhaft hält?

Perfektionismus hat zur Vertuschung des Missbrauchs geführt

Es ist das Missverständnis, man müsse vor Gott moralisch perfekt sein. Daher galt und gilt offenbar die Annahme, das katholische Gottesvolk würde seinen Glauben verlieren, Gläubige würden an der Kirche zweifeln, sich abwenden, wenn sie über die Sünden und Schwächen ihrer für die Heiligkeit Zuständigen erführen. Denn wenn Priester trotz ihrer Weihe sündigen, schwere Fehler, sogar Verbrechen begehen, dann muss man ja davon ausgehen – nach dieser Logik –, dass ein Priester gar nichts Besonderes ist, dass die Weihe ihn nicht verändert, ihn nicht Christus gleich oder wenigstens ähnlicher macht. Denn wenn Christus ohne Sünde war, aber der Priester es nicht ist, wie soll er dann Christus repräsentieren und in Christi Namen Sakramente spenden, über Brot und Wein die Wandlungsworte sprechen, den Sündern Vergebung zusagen, die frohe Heilsbotschaft verkünden? Demnach müssen Priester – und damit auch die Kirche – fehlerfrei, sündenfrei, perfekt sein. Kirche als perfekte Gesellschaft. Die Wirkung dieser Perfektionslogik macht Christus und das Evangelium klein, den Priester und die verfasste Kirche übergroß. Denn dann hängt es von der moralischen Makellosigkeit der Menschen und der Institution ab, ob Gottes Heil wirken kann. Gottes Heilszusage ist aber viel größer. Die zentrale Botschaft des Evangeliums lautet: Christus kommt zu den Sündern, fühlt sich den Schwachen besonders nahe – und hilft ihnen, aus der Sünde herauszukommen, wenn sie sich denn dazu bekennen. Am Kreuz stirbt Jesus sogar stellvertretend für die Sünder, um sie aus der Sünde zu erlösen. Die Kirche verkündet die Botschaft der unbedingten Liebe Gottes für den Sünder – nicht für die Sünde – und setzt auf die immer wieder neu mögliche Umkehr. Sie hat das sogar im Sakrament der Buße – Beichte – institutionalisiert. Im Widerspruch dazu vermittelt die Kirche den Eindruck, Sünde dürfe gar nicht vorkommen, moralische Makellosigkeit und Perfektion seien der Maßstab. Dabei ist nicht der Anspruch schlecht, sich möglichst moralisch zu verhalten, also keine Sünden zu begehen. Entscheidend ist aber, dass man zu seinen Fehlern, Sünden und auch Verbrechen stehen darf. Dieses Klima war und ist auch heute noch in der Kirche nicht gegeben. Nun ist der Missbrauch an Kindern und Schutzbefohlenen kein Kavaliersdelikt, keine kleine Sünde, sondern ein schwerwiegendes, oft traumatisierendes Verbrechen, das ganze Biographien zerstört. Es geht nicht darum, diese Verbrechen theologisch aufzuladen, zu spiritualisieren oder sie gar einfachhin als Fehltritte oder Ausdruck charakterlicher Schwächen zu verharmlosen. Zugleich lautet die Botschaft des Evangeliums konsequent zu Ende gedacht: Wer Sünden begeht, darf und muss sich dazu bekennen. Schwäche ist erlaubt, ich darf meine Fehler, auch Verbrechen eingestehen. Dann wird mir geholfen. Und weil ich mich zu meinen Taten bekenne, werden dann auch die Opfer meiner Taten sichtbar, sie können entschädigt werden, vielleicht wird sogar Versöhnung möglich.

Die Amtsträger der Kirche müssen sich zu dem Missbrauch bekennen

Weil die Kirche und ihre Vertreter sich bis heute nicht zu ihrer Vertuschung bekennen und sich nicht auf die Seite der Täter stellen, entsteht der Eindruck, als wollten sie nach wie vor, dass die Institution Kirche makellos, fehlerfrei und perfekt wirkt. Dieses institutionelle Selbstbild überzeugt aber nicht mehr. Es ist allenthalben von Glaubwürdigkeitsverlust die Rede, Bischöfe benutzen dieses Wort inflationsartig. Aber die vielen Menschen, die jetzt aus der Kirche austreten, tun das nicht, weil sich durch den Missbrauchsskandal zeigt, dass in der Kirche, von ihren Priestern Sünde geschieht. Der Skandal ist nicht, dass es in der Kirche Verbrecher und Sünde gibt. Sie treten aus und verlieren damit oftmals auch ihren Glauben, weil die Kirche ihnen jahrelang erzählt hat, sie selbst sei ohne Sünde. Sie hat das Bild vermittelt, um glaubwürdig das Evangelium verkünden zu können, müssten Priester und Bischöfe perfekt sein. Dass jemand sich versündigte, durfte keiner wissen, aus der Angst, dann gäbe es den Skandal. Der Glaubwürdigkeitsverlust besteht jetzt darin, dass die Gläubigen spüren: In der Kirche ist gar kein Platz für Sünder. Man darf dort gar nicht unperfekt sein. Vielmehr wird deutlich: Wer Fehler macht, zu dem steht die Institution nicht, sondern versucht, ihn zu verstecken. Sie bekennt sich nicht zu den Sündern in ihrer Gemeinschaft. Warum sollte sie dann mir helfen, wenn ich Fehler mache, wenn ich sündige. Die Sünde einzelner könnte offenbaren, dass die Kirche nicht vollkommen heilig und perfekt, sondern selbst eine sündige, fehlerhafte Institution ist.

Wer nicht dem Idealbild entspricht, gehört nicht dazu

Die Angst davor, dass die eigene Sündhaftigkeit deutlich wird, lähmt die Kirche und verhindert, dass sie sich mit den Tätern beschäftigt, sich als Repräsentantin der Täter bekennt. Dadurch kann sie aber auch nicht wahrhaben, dass das Leben vieler Opfer durch den Missbrauch zerbrochen ist. Denn die Opfer waren ja in Berührung mit den Tätern. Das Problem der Kirche ist also nicht zuerst, dass sie keinen Blick für die Opfer hat. Das stimmt zwar, aber die Ursache dafür ist die Angst vor der eigenen Täterdimension. Daher lässt sich auch erklären, warum die Kirche die Opfer ihrer eigenen Lehre als Sünder definiert. Deswegen wird scheinbar sündhaftes Verhalten hart sanktioniert. Unverheiratete und wiederverheiratete Paare, homosexuelle Menschen und andere LGBTIQ-Menschen werden als Sünder bezeichnet, ausgeschlossen und aus Kirchenberufen gekündigt. Aber selbst wenn ihre Lebensweise, ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität und ihr Verhalten sündhaft wären – was sie nicht sind –, stünde es im Widerspruch zum Evangelium, diese Menschen auszugrenzen oder zu entlassen. Stattdessen werden die schwerwiegenden, echten Sünden von Missbrauchstätern versteckt und verheimlicht. Darin drückt sich gerade nicht die Barmherzigkeit des Evangeliums aus. Dem Aufruf Jesu zur Barmherzigkeit wird dann genüge getan, wenn die Kirche sich als sündige Kirche bekennt und zu den Sünden ihrer Mitglieder steht. Gegenwärtig entsteht jedoch der Eindruck: In der Kirche muss man sein Innerstes, seine Probleme und dunklen Seiten verheimlichen und verstecken. Wer Fehler macht, dem wird nicht geholfen, nicht wieder zu sündigen, sondern er wird versetzt und verheimlicht. Die Aussage „Wir haben die Opfer nicht im Blick gehabt“ wirkt daher nicht überzeugend. Wenn die Kirche weiterhin ihre Sündhaftigkeit leugnet, kann sie gar keinen tiefgehenden Blick für die Opfer entwickeln. Denn wenn es keine Täter gibt, gibt es auch keine Opfer.

Zum Weiterlesen:
Missbrauch – sich auch an die Seite der Täter stellen (kath.de, 23.01.2022)
Kirche ent-institutionalisieren (explizit.net, 28.01.2022)

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