Verantwortung übernehmen für die Demokratie

Im September findet die Bundestagswahl statt. Als Bürger:innen haben wir die Möglichkeit, die Weichen für die nächsten vier Jahre zu stellen. Für meine Generation sind demokratische Wahlen ganz selbstverständlich – so sehr, dass einige es nicht mehr für notwendig halten, ihre Stimme abzugeben, nach dem Motto: Eine Stimme mehr oder weniger, darauf kommt es auch nicht an. Aber sind einzelne Stimmen wirklich so belanglos? Texte der politischen Philosophin Hannah Arendt lassen mich erneut nachdenken.

Bernd Schwabe in Hannover, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons

Foto: Bernd Schwabe in Hannover, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons (hier Ränder abgeschnitten)


Im 21. Jahrhundert ist eine demokratische Staatsform optimal, eigentlich schon normal. Mit dieser Denkweise bin ich aufgewachsen, anders habe ich es nicht kennengelernt. Ich soll mich engagieren und Verantwortung für die Gesellschaft tragen. Diese Haltung ist jedoch nicht für jeden selbstverständlich. Nach einem Seminar zum Thema „Auschwitz“ frage ich mich mit Hannah Arendt: Welche Verantwortung trägt jede:r einzelne in Diktaturen – und in Demokratien?

Von der Demokratie zur Diktatur

Wenn ich über die Grenzen Deutschlands hinausblicke in andere Staaten, fällt mir auf, wie wackelig und verletzlich Demokratien sein können. Sogar hier in Europa können wir zuschauen, wie sich demokratische Staaten schleichend in Diktaturen verwandeln oder es schon sind. Das erzeugt mitunter Widerstand. In Belarus haben mutige Frauen im friedlichen Protest gegen Präsident Lukaschenko demonstriert, ein Beispiel für die Übernahme persönlicher politischer Verantwortung.

Beispiel Türkei: Präsident Recep Tayyip Erdogan lässt kaum etwas unversucht, um seine Macht auszubauen und seine Stammwähler:innen um sich zu versammeln. Günter Seufert, Türkei-Experte beim Deutschen Institut für Internationale Politik und Sicherheit sieht bereits einen massiven Schaden der Demokratie in der Türkei. Wenn ich höre, dass Journalist:innen und Wissenschaftler:innen dort ihren Beruf nicht frei ausüben können und Angst haben müssen, eingesperrt zu werden, oder Wahlvorgänge undurchsichtig verlaufen, gibt mir das sehr zu denken. Seit dem Putschversuch im Jahr 2016 herrscht in der Türkei ein Ausnahmezustand. Durch die Volksabstimmung 2017 wurde das parlamentarische System in ein Präsidialsystem umgewandelt, ein deutlicher Machtausbau Erdogans. Welchen Anteil und welche Verantwortung haben Bürger:innen demokratischer Staaten, in denen die Herrschenden demokratische Strukturen verachten und abbauen?

Hannah Arendt und das Dritte Reich

Mit persönlicher politischer Verantwortung hat sich auch die jüdische deutsch-US-amerikanische politische Philosophin Hannah Arendt (1906-1975) auseinandergesetzt. Sie schrieb über jene Deutsche, die als durchschnittliche Bürger:innen im Dritten Reich zu Täter:innen wurden und somit das Hitler-Regime aktiv unterstützten. Sie schaut auch auf diejenigen, die sich in den Privatbereich zurückzogen und sich gewissermaßen vor politischer Verantwortung „drückten“. In einer Diktatur, in der Personen befürchten müssen, ihre Arbeit zu verlieren oder eingesperrt zu werden, kann der Rückzug in den Privatbereich ein Weg sein, um sich zu schützen, das Regime gleichzeitig jedoch nicht zu unterstützen.

In einer Demokratie ist das anders. Hier gilt es, aktiv Parteien oder Gruppierungen zu verhindern, die diese Staatsordnung bedrohen. Das einfachste und jede:r Staatsbürger:in zur Verfügung stehende Mittel ist die Wahl. Wahlberechtigte Bürger:innen sind eben nicht nur ein „Rädchen im Getriebe“, sondern identifizierbare Individuen, die für ihr eigenes Handeln in der Verantwortung stehen. Denn um ein politisches System am Laufen zu halten, braucht es Menschen, die sich dafür einsetzen.

Hannah Arendt meinte: Um ein politisches System am Laufen zu halten, braucht es Menschen, also Individuen, die den Herrschenden, etwa einem „Führer“, folgen. Ohne seine Anhänger:innen könnte dieser seine politischen Ziele, seine Ideologie nicht umsetzen. Um den Herrschenden, etwa einer Führerfigur zu folgen, braucht es daher ein gewisses Maß an innerer Auseinandersetzung mit sich selbst. Hannah Arendt weist in dieser Hinsicht gezielt darauf hin, den Begriff „Gehorsam“ zu überdenken. Kinder beispielsweise gehorchten, da sie hilflos wären, wenn sie die Kooperation mit Erwachsenen verweigerten. Das gilt für erwachsene Menschen gegenüber einem politischen System nicht uneingeschränkt. Sie unterstützen das System bereits, wenn sie sich nicht ausdrücklich dagegenstellen oder zumindest aus Verantwortungssituationen zurückziehen.

Verantwortung übernehmen bedeutet Selbstreflexion

Es liegt also in meiner persönlichen Verantwortung, wie ich mich verhalte. Dazu gehört auch ein Mindestmaß politischer Bildung. Ich muss mich informieren, mir eine Meinung bilden, um zu verstehen und zu überblicken, ob und wenn die politische Situation sich verändert, etwa wenn demokratische Prinzipien infrage gestellt werden. Für Hannah Arendt war es am wichtigsten, zu zweifeln und skeptisch zu sein. Letztendlich seien „wir verdammt, mit uns selber zu leben“. Nicht jede:r einzelne kann die ganze Verantwortung für ein politisches System übernehmen, das gilt sowohl damals als auch heute. Aber jeder kann seine eigenen Maßstäbe überdenken, auf sich selbst und sein Handeln reflektieren und nach „moralisch guten Handlungen“ befragen.

Gerade in der Corona-Pandemie ist mir bewusst geworden, wie wichtig dieser Einsatz ist. Durch die teilweise widersprüchlichen politischen Maßnahmen, Verwirrungen um Inzidenzzahlen und Öffnungen hat sich in Deutschland eine gewisse Politikverdrossenheit eingeschlichen. Dabei ist es gerade jetzt wichtig, im Dialog zu bleiben und aktiv mitzugestalten. Dafür ist eine innere Auseinandersetzung mit mir selbst nötig. Als Bürger:in und Wahlberechtigte muss ich mir der Verantwortung meines Verhaltens für die Umwelt und die Gesellschaft bewusst sein.