Spitzenkandidat ohne Spitzenjob

Der scheidende Präsident der Europäischen Kommission Jean-Claude Juncker meint, er sei der erste und letzte Spitzenkandidat für das Amt des Kommissionspräsidenten. Das Spitzenkandidat-Prinzip sei mit der Entscheidung für die Nominierung Ursula von der Leyens gescheitert. Daran ist Juncker aber nicht unschuldig: Die Bedeutung der höchsten EU-Ämter ist unklar.


(Bild: Dimitris Vetsikas auf Pixabay)

Profil oder Pappschild

Ein Modell der EU Wahlen mit Spitzenkandidaten, wie Juncker es favorisiert, braucht Persönlichkeiten, die diese Rolle ausfüllen. Sie müssen klare Positionen einnehmen und diese nach außen darstellen. Obamas „Hope“, Trumps „Make America great again“, Schröders „Agenda 2010“ oder Merkels „Wir schaffen das“: Diese Politiker haben klar gemacht, wofür sie stehen. Das hat Junker nicht geschafft. Zwar ist er medial oft in Erscheinung getreten und wurde durchaus wahrgenommen, doch nicht für bestimmte Themen.

Auch die „Spitzenkandidaten“ der Europawahl 2019 waren nicht deutlich mit Inhalten verknüpft. Auch dadurch gab es keine größere öffentlich Reaktion darauf, dass keiner der Kandidaten eine Chance zur Wahl bekommen hat. Die Spitzenkandidaten der vergangenen EU-Wahlen sind kaum deutlich geworden, weder im Wahlkampf noch in ihren späteren Amtszeiten. Damit wurden sie dem Anspruch eines Spitzenkandidaten nie gerecht.

Komplexes System Europäische Union

Ein Grund für ihre geringe Profilierung liegt in der Ämterstruktur der EU. Zum einen gibt es mit dem Ratspräsidenten eine weitere Person, die für die Union Position bezieht. Gerade im Dauerbrenner „Brexit“ tritt eher Donald Tusk in Erscheinung. Als Repräsentant der Staats- und Regierungschefs gibt er ihre Intentionen weiter.

Zum anderen beißt sich bei der Position der Kommissionspräsidentin Einfluss mit der Bedeutung eines Spitzenkandidaten. Wenn man das Amt des Kommissionspräsidenten mit dem des deutschen Bundeskanzlers vergleicht, ist die Legitimation sehr ähnlich: Gewählt von einem Parlament, wobei die Person des Spitzenkandidaten eine herausragende Rolle einnimmt. Doch die Befugnisse der beiden Positionen sind praktisch verschieden. Der Kommissionspräsidenten ist als Leiter der Exekutive der EU zwar eine Art Regierungschef, doch da entscheidende Kompetenzen bei den Mitgliedstaaten verbleiben, bleibt er in seinen Handlungsmöglichkeiten sehr eingeschränkt.

In diesem Problem wird die große Frage der EU deutlich: Soll sie eher einer lockeren Staatengemeinschaft wie der UN gleichen oder einem föderalen Staat wie den USA, die ursprünglich auch nur als eine lose Vereinigung der 13 Gründungstaaten gedacht waren? Momentan liegt die EU dazwischen, mit deutlich mehr Macht und Kompetenzen wie die UN, aber deutlich weniger als die USA. Damit fehlt ihr aber auch die einheitsstiftende Kraft einer föderalen Regierung. Hier braucht es entweder eine Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten oder ein neues Modell, das unter Rücksicht darauf durchdacht ist, wie eine Staatenunion im Spannungsfeld zwischen Gemeinschaft und Nationalstaaten handeln kann. Euroskepsis und Apathie beim Bruch des „Spitzenkandidat-Prinzips“ zeigen, dass die bestehenden Strukturen nicht überzeugen.

Neue Chancen durch junge Wähler

Ursula von der Leyen hat nach ihrer Wahl ihre inhaltliche Position klar gemacht. Ihre wichtigste Aufgabe sei der Klimaschutz. Mit dieser Positionierung mag sie es schaffen, das Profil des Kommissionspräsidentenamtes soweit zu stärken, dass der nächste Wahlkampf tatsächlich zwischen Spitzenkandidaten stattfindet. Damit kommt die Frage nach der Stellung des Amtes und das Konstrukt Europäische Union wieder in den Vordergrund. Wenn in den nächsten Jahren die europäisch aufgewachsene Jugend mehr politische Verantwortung übernimmt und einen größeren Anteil der Wähler stellt, kann auch ein radikaler Schritt in die Zukunft Europas möglich sein.