Dignitas: Menschenwürde als Bezugspunkt für die Freiheit

Vor 75 Jahren verabschiedeten die Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen die Erklärung der Menschenrechte. Die Präambel leitet die Geltung dieser Rechte von der Menschenwürde her. Ein jetzt erschienenes Dokument „Dignitas infinita" (Unendliche Würde) aus dem Vatikan entfaltet den Bedeutungsgehalt dieser weltweiten Verpflichtung. Das ist auch deshalb sinnvoll, weil die unbe-grenzte Würde - nur erkannt, nicht aber bewiesen werden kann.

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Vatikan unterstützt die Vereinten Nationen

„Da die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen die Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt bildet, da die Nichtanerkennung und Verachtung der Menschenrechte zu Ak-ten der Barbarei geführt haben, die das Gewissen der Menschheit mit Empörung erfüllen, und da verkündet worden ist, dass einer Welt, in der die Menschen Rede- und Glaubensfreiheit und Frei-heit von Furcht und Not genießen, das höchste Streben des Menschen gilt,… verkündet die Gene-ralversammlung diese Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.“

Aus der Präambel der Erklärung vom 10.12.1948

Menschenwürde – ein Erkenntnis-Prozess

Da die Menschenwürde, wie die Freiheit, nicht bewiesen werden kann, muss sie nicht abschließend definiert werden. Sie eröffnet mit ihrer Entfaltung ein tiefes Verstehen des Menschen. Weil sie nicht etwas statisches in der menschlichen Person ist, gibt sie dem menschlichen Zusammenleben bis hin zur Rechtsordnung den zentralen Bezugspunkt vor. Das Dokument „Dignitas infinita“ entfaltet in ihrem ersten Teil die Entwicklung des Verständnisses der Menschenwürde bis zu der Erkenntnis, dass sie Bezugspunkt für das Zusammenleben und dessen Strukturierung durch die Rechtsord-nung ist. Die Menschenrechte sind aus einem vertieften Verständnis der Menschenwürde formu-liert worden. Das Dokument des Konzils über die Religionsfreiheit bezieht sich in seinem Titel „Dig-nitatis humanae“ – Würde des Menschen auf diese Herleitung. Menschenwürde stellt sich darin als ein Prozess ihrer Entfaltung dar.

Die Würde ist mit dem Menschsein gegeben.

Die Würde kann der Mensch, wie die DNA, nicht selber herstellen. Sie kann dem Menschen nicht genommen werden und wird ihm weder durch den Staat noch von den Eltern zugesprochen. Die Anderen können diese Würde anerkennen und sich an diesem letztgültigen Maßstab orientieren. Daraus folgt, dass die menschliche Gemeinschaft Bedingungen bereitstellen muss, in denen die Würde anerkannt wird und gelebt werden kann. Diese Verankerung der Würde in jedem Men-schen benennt das Dokument mit dem philosophischen Begriff "ontologisch". Das griechische "On", das Sein, besagt, dass die Würde im Sein des Menschen verankert ist. Sie ist mehr als eine Eigenschaft, die ein Mensch auch nicht haben könnte.

Die Physik findet die Materie vor, die Philosophie den Menschen. Beide können erforscht werden, der Mensch sowohl naturwissenschaftlich in seiner Körperlichkeit wie auch geistig. Durch Freiheit und Vernunft wird er als Person konstituiert. Die Menschenwürde ist dem/ der Einzelnen selbst anvertraut und soll sich durch sittliches Handeln und Mitgestaltung der Menschenwelt entfalten. Damit bleibt die Würde nicht nur ein Gedanken.

Bezugspunkt für die Freiheit

Als soziales Wesen beinhaltet Würde, Verantwortung zu übernehmen, um das menschliche Zu-sammenleben so zu gestalten, so dass die Würde des Einzelnen nicht beeinträchtigt wird. Da ein Mensch sich auch gegen die eigene Würde verhalten, sich blamieren oder straffällig werden kann, gewinnt die Freiheit in der Würde jedes Einzelnen ihren Bezugspunkt. Dieser ermöglicht, die eigene Freiheit und die der Anderen als letzten Maßstab im Blick zu behalten. Für ein Dokument aus dem Vatikan überraschend wird die Ausübung der eigenen Freiheit gefordert. Die Konsequenz, die das Dokument ableitet, lässt alle Einschränkungen der eignen Freiheit wie die der Anderen als Verletzung der Menschenwürde erkennbar werden

Beeinträchtigung und Verletzung der Menschenwürde

Weil die Menschenwürde jedes Menschen sich im Zusammenleben entfaltet, braucht sie die Aner-kennung der Anderen. Diese Achtung können Andere verweigern. Dazu werden im zweiten Teil des Dokuments 14 solcher Formen der Missachtung benannt. Das sind u.a. die Todesstrafe, , Ar-mut, Menschenhandel, Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der digitalen Welt. Es gibt darunter Punk-te, die in der Gesellschaft diskutiert und auch durch Gesetze entschieden werden. Leihmutter-schaft, Euthanasie und assistierter Selbstmord, Abtreibung, Gendertheorie, Geschlechtsumwand-lung. Diese Themen werden meist unter dem Aspekt der Freiheit des Einzelnen diskutiert und ent-schieden. Das Lehrschreiben dekliniert diese Fragestellungen in ihrem Bezug zu der Menschwürde durch. Unter diesem Gesichtspunkt entspricht dann eine Gesetzgebung zwar dem Moment einer größeren Freiheit aber damit nicht notwendig dem Kriterium „Menschenwürde“. Fazit: lesenswert und ergänzungsbedürftig Der kurze Aufriss legt die Lektüre des Dokumentes „Dignitas infinita" auch deshalb nahe, weil das Dokument die Entfaltung der Menschenwürde nicht nur in den Menschenrechten nachvoll-zieht, sondern auch eine dynamische Sicht für die Verwirklichung der Würde aufzeigt. Die Beein-trächtigungen dieser Würde schließen sich an. Sie werden nicht nur als Verletzung der Menschen-rechte, sondern als auch der Würde jedes Einzelnen .

Wie jede Annäherung an das Wesen des Menschen bleibt die vom Vatikan formulierte Annähe-rung auch unvollständig. Eines kann sich jedoch die Zentrale einer weltumspannenden Religions-gemeinschaft nicht leisten: Die Beschränkung auf die Kultur nur eines Erdteils.

Das Vatikandokument gesteht zwar ein, dass sich die Ausführungen auf die europäische Geistes-geschichte beschränken. Aber Afrika gehört nicht nur deshalb in die Überlegungen, weil es mit einem Konzept „Ubuntu“ (Verbundenheit) einen eigenen Zugang gefunden hat. Afrikaner:innen sagen, dass die Menschenrechte eine große Herausforderung sind. Ebenso leisten die asiatischen Kulturen einen wichtigen Beitrag zur Ausfaltung der Menschenwürde. Mit deren Aufnahme in „Dignitas infinita" würde die Herausstellung der Menschenwürde nicht fälschlicherweise nur auf eine europäische Tradition begrenzt.

Hier kann das Vatikan-Dokument in deutscher Übersetzung im Wortlaut nachgelesen werden: https://www.vatican.va/roman_curia/congregations/cfaith/documents/rc_ddf_doc_20240402_dignitas-infinita_ge.html.

Eckhard Bieger S.J. (Chefredakteur hinsehen.net)