Prävention, die erst bei neuem Missbrauch greift

Prävention heißt, dem Missbrauch zuvorkommen. Gegenüber der katholischen Kirche bleibt der Verdacht, dass sie das nicht hinbekommt. Die Prävention, die eingeführt wird, ist kein ausreichender Kinderschutz. Denn erst muss ein Kind missbraucht worden sein, ehe die Verantwortlichen aktiv werden sollen. Die Täter müssen jedoch vorher erreicht werden.

Alexas_Fotos/Pixabay

Dem Missbrauch zuvorkommen hieße ja, dass erst gar nicht Kinder körperlich und psychisch verletzt werden. Das Versprechen wird der katholischen Kirche abverlangt, aber nicht nur sie kann es nicht einlösen. Denn ein Täter gerät erst auf den „Schirm“, wenn er „tätig“ geworden ist. Es würde sich erst entscheidend etwas ändern, wenn die Täter von ihrem Tun abgehalten werden könnten. Dafür müsste man aber wissen, was die Täter zu Missbrauch verleitet.

Die Prävention muss erweitert werden

  1. Damit Kinder nicht erst missbraucht werden, müssen sie „stark gemacht werden“, damit sie sich abgrenzen und Erwachsenen berichten, dass sich jemand ihnen genähert hat. Weiter müssen diejenigen Kinder mehr geschützt werden, auf die Täter zugehen. Das sind die Zurückhaltenden, vielleicht auch gewissermaßen „Ängstlichen“.
  2. Für die Täter muss es therapeutische Angebote geben. Diese brauchen wissenschaftliche Fundierung, denn nur wenn die Dynamiken durchschaut werden, die zu Missbrauch führen, kann den Tätern wirklich geholfen werden. Hier gibt es die falsche These, sexuelle Übergriffe seien nicht zuerst sexuell motiviert, sondern seien Machtgehabe. Es ist umgekehrt. Männliche Sexualität trägt einen Gewaltfaktor mit sich.

Ich selbst habe die Präventionsmaßnahmen, die das Erzbistum Freiburg anbietet, durchlaufen. Dabei bin ich auf innere Widersprüche gestoßen. Sie erklären mir auch, warum Vertreter der Kirche immer wieder ins Schwimmen kommen, wenn sie Studien vorstellen und erklären sollen, wie in Zukunft Missbrauch verhindert werden soll. Die Prävention, für die ich geschult wurde, vermittelt Richtiges, aber die Maßnahmen greifen erst, wenn Übergriffe erfolgt sind. Durch Recherche und Gespräche konnte ich feststellen: Es gibt weitere Konzepte, die in die Präventionsmaßnahmen eingebaut werden müssen. Ich selbst bin damit nicht zum Fachmann für Prävention geworden, kann aber erklären, warum die Kirche in Deutschland auch nach 11 Jahren immer noch ins Schleudern kommt. Es ist nicht nur der Kölner Erzbischof – auch andere Personalverantwortliche können nicht glaubhaft machen, dass die katholische Kirche effektiv gegen Missbrauch vorgeht. Es sind aber auch zumindest die Wissenschaftler und Therapeuten, die das Schulungskonzept entwickelt haben. Ich halte das, zu dem sie der Kirche raten, für völlig unzureichend.

Nicht warten, bis ein Kind missbraucht worden ist

Die Schulung war instruktiv, sie beschrieb das Vorgehen der Täter und die Folgen für die Opfer. Das soll die Aufmerksamkeit für Kinder erhöhen, die Symptome zeigen und das Personal im Kindergarten, in den Jugendverbänden und Pfarreien zum genaueren Hinschauen und Handeln motivieren. Für die Kinder kann man jedoch sehr viel mehr tun, als sie zu beobachten. Aus den bisherigen Untersuchungen ist deutlich, dass die Täter langfristig mit einer gut durchdachten Strategie vorgehen. Da schon im Kindergarten genügend Kinder gut beobachten und sich auch abgrenzen können, müsste man in den kirchlichen Arbeitsfeldern die „starken“ Kinder und Jugendlichen motivieren, ihre Beobachtungen mitzuteilen. Dafür muss man mit Kindern früh über solches Verhalten von Erwachsenen sprechen. Da die Täter sich schüchterne und ängstliche Kinder aussuchen, sollten die Verantwortlichen motiviert werden, besonders diese Kinder im Auge zu behalten. Jedoch sind nicht die Kinder – wie in der jetzt verfolgten Prävention – das Hauptproblem, sondern die Täter. Kann man nicht etwas für die Täter tun, ehe sie straffällig geworden sind? Dafür müsste man mehr darüber wissen, was die Täter übergriffig werden lässt.

Der mutmaßliche Täter

Auch wenn jetzt die Täter nicht mehr nur versetzt werden und die Personalverantwortlichen auch nicht mehr bewusst wegschauen, gibt es von der Pastoral-Psychologie und von anderen Fachleuten kaum Antworten, was Männer und auch Frauen zu Tätern macht. Das hat gravierende Folgen für die Kinder, denn so lange die Täter nicht in die Prävention einbezogen werden, bleiben sie doch weiter „tätig“. Prävention bei den Tätern ist aber nur möglich, wenn man weiß, was man therapieren soll. Hier geht die Antwort in zwei unterschiedliche Richtungen, die zu widersprüchlichen Feststellungen führt, so dass die katholische Kirche zu keinem therapeutischen Ansatz für die Täter gekommen ist. Es sei eigentlich Machtausübung, die sich in Übergriffen ausdrückt. Aber warum dann gerade sexuell? Diese Einwirkung auf den Körper etwa deshalb, weil die Prügelstrafe nicht mehr als Machtmittel zur Verfügung steht? Oder machen sexuelle Übergriffe die Machtausübung besonders lustvoll? Diese Feststellung, es sei eigentlich Macht und nicht Sexualität, führt zu einer abstrusen Behauptung: Weil Priester zum Machtmissbrauch neigen, ja sogar von der hierarchischen Struktur der Kirche dazu verleitet würden, käme es gerade bei Klerikern zu der großen Zahl der Übergriffe. In gleichem Zusammenhang heißt es dann, dass 50% der Übergriffe in Familien geschehen. Werden die Täter, Väter und Verwandte, auch aus Machtgebaren übergriffig? Es ist doch das sexuelle vorrangig. Da würde man als Zeitgenosse doch gerne hören, wie beide Aussagen zusammenpassen.

Missbrauch nur zufällig sexuell?

Schon beim Durcharbeiten der in Heidelberg und Mannheim angefertigten Missbrauchsstudie von 2018 („MHG-Studie“) fand ich überraschende Daten, nämlich dass ein großer Anteil der Täter nur einmal auffällig geworden war. In der Fortbildung, an der ich teilgenommen habe, wurde als Forschungsergebnis genannt, dass nur 5% der Täter pädo-sexuell, also auf Kinder als Sexualobjekte programmiert sind. Im Umkehrschluss hieße das, dass männliches Machtstreben zu sexuellem Missbrauch führt. Eine wirksame Prävention, die nicht wartet, bis ein Kind missbraucht wurde, müsste sich dann mit dem männlichen Machtstreben auseinandersetzen. Aber dann bliebe immer noch die Frage, warum Frauen nur 5%, allenfalls 10% der Erwachsenen ausmachen, die sexuell übergriffig werden. Üben Mütter, ältere Schwestern, Erzieherinnen und Lehrerinnen keine Macht auf Kinder aus? Weil das Konzept für die Täter-Prävention in sich widersprüchlich ist, können die Verantwortlichen die Öffentlichkeit nicht überzeugen und so bleibt Missbrauch auch im 11. Jahr unerledigt.

Die Personalverantwortlichen der Kirche verheddern sich in der Täterfrage

Weil die Täterdynamik widersprüchlich beschrieben wird, stolpern die Personalverantwortlichen immer wieder, und können keine Linie für das kirchliche Vorgehen festlegen und diese dann noch gegenüber Staatsanwälten, Kinderschutz-Organisationen und Medien vertreten. Nach meiner Beobachtung hat sich nicht nur der Kölner Erzbischof in dieser Frage verheddert.
Bischöfe und Personalverantwortlichen werden auch mit einem weiteren Widerspruch nicht fertig. Sie haben eine besondere Pflicht gegenüber Priestern und Diakonen übernommen. Denn diese haben sich lebenslang an das Bistum oder den Orden gebunden. Das verführt die Verantwortlichen dazu, die ihnen Anvertrauten vor „Verleumdung“ und den der Kirche gegenüber sowieso „feindlichen Medien“ zu schützen. Dieser Schutz geht immer zulasten der Kinder. Es ist auch kurzsichtig, denn erst therapeutische Hilfe würde potentielle Täter wirksam schützen, nicht zuletzt davor, straffällig zu werden. Wenn die Psychologie und Therapie-Forschung keine ausreichende Erklärung dafür liefert, wie Machtmissbrauch zu sexuellen Übergriffen führt, gibt es auch keine Prävention, die die Kinder ganzheitlich schützt.

Es ist unverständlich, warum die reichste Kirche der Welt entsprechende Forschungen nicht finanziert hat, aber auf der anderen Seite viel Geld bereitstellt, um alle Personalakten auszuwerten. In denen wird wohl kaum die Frage beantwortet, was die Ursache und was die Folge ist. Sie hätten auch, so wie die Berliner Klinik Charité, eine therapeutische Abteilung an einer der kirchlichen Kliniken einrichten können. Für Alkoholkranke gibt es diese Fachabteilungen schon seit Jahrzehnten, warum nicht für Missbrauchstäter und -Gefährdete? Offensichtlich gibt es auch bei den Pastoralpsychologen keinen Forschungsehrgeiz.

Sexuellen Missbrauch durch Machtkontrolle verhindern

Der Synodale Weg, der zur Bearbeitung der Missbrauchsproblematik 2019 eingerichtet wurde, situiert die Missbrauchsproblematik im Machtgefüge der katholischen Kirche. In der Vorlage zum Machtmissbrauch heißt es: „Im Missbrauchsskandal spitzt sich die Krise zu. Die MHG-Studie hat eindrücklich und in verstörender Vielfalt gezeigt, dass sexualisierte Gewalt von Klerikern an Kindern und Jugendlichen, die Vertuschung von Taten und der Schutz von Tätern nicht nur individualpsychologische, sondern auch systemische Ursachen haben. In den Blick kommt vor allem die geltende innerkirchliche Machtordnung, die bestimmte kriminelle und übergriffige Handlungen begünstigt und deren interne Bekämpfung sowie die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden erschwert hat.“

Deutlicher wird Macht als Ursache für Missbrauch in dem Zwischenbericht benannt, der in Freiburg im Juni 2021 abgeschlossen und vom Herder-Verlag veröffentlicht wurde:

„Die klerikalistischen, autoritär-hierarchischen Strukturen sowie ein überhöhtes Priesterbild führen in der katholischen Kirche zu extremen Machtasymmetrien, die ein ganz klares Oben und Unten kreieren und ein Dominanzverhalten auf Seiten der Priester begünstigen.“ (S. 83) Es wird dann eine Aussage von Kurt Wenzel zitiert. „Sexueller Missbrauch ist ein extremer Auswuchs dieser Dominanz.“

Durch Kontrolle der Macht soll offensichtlich der Missbrauch eingedämmt werden. Wie das konkret geschehen kann, ist aus den online zugänglichen Dokumenten nicht zu ersehen. Auch vom Synodalen Weg wird also wieder ein Versprechen gemacht, das nicht einzulösen ist. Es wird noch nicht einmal der Versuch unternommen, die schon getätigten Ansätze in den Diözesen weiterzuentwickeln, um einen wirksameren Schutz der Kinder zu gewährleisten. Die Konzentration auf die Kleriker scheint auch nicht den Tatsachen zu entsprechen. Wenn z.B. an einem katholischen Internat der Fahrer Minderjährige missbraucht, dürfte die weit ausholenden Formulierungen schnell ihre Grenze finden, denn da greifen Maßnahmen zur Machtkontrolle nicht mehr. Und ist der Missbrauch in familiären Kontexten auch Ausfluss einer Machtdemonstration?

Eine notwendige Weiterentwicklung der katholischen Binnenkultur kann nicht bei der Achtsamkeit für Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern stehen bleiben. Auch reicht es nicht, dass das Personalmanagement die Missbrauchsgefährdung im Blick hat. Der Ansatz, nicht den Priestern, Pädagogen, Jugendleitern, sondern den Opfern Vorrang zu geben, ist richtig, reicht aber auch nicht, denn dann wird es weiterhin Opfer geben müssen, um die Täter zu identifizieren. Die Täter nur aus dem Verkehr zu ziehen, kann keine christliche Lösung sein oder man unterschlägt das Versprechen auf Heilung.

Der Auftrag Jesu ist mit dem aktuellen Präventionsinstrumentarium nicht umgesetzt.

Insgesamt braucht es die Umsetzung des Auftrags Jesu, der nicht nur den Kinderschändern einen Mühlstein um den Hals angekündigt, sondern der auch die Kinder als die bezeichnet hat, die am ehesten seine Botschaft vom kommenden Reich Gottes verstehen. Jesus hatte wohl auch den Missbrauch, nicht nur den sexuellen, im Blick, als er das harte Urteil über die fällte, die Kinder auf Abwege bringen. Für diejenigen, die sich auf Jesus berufen, beinhaltetet dieses Vermächtnis ein noch lange nicht ausgeschöpftes Entwicklungspotential. Die katholische Kirche unterhält zwar viele Kindergärten, aber hat es versäumt, ihre Kinder-Kultur weiter zu entwickeln. Zwar hat sie im Römischen Reich die Kinder vor dem Schicksal befreit, bereits als Baby vom Vater abgelehnt und damit in den Tod geschickt zu werden. Aber dass die Kinder den Stellenwert hätten, der ihnen von Jesus gegeben wurde, ist nicht der Fall. Dann hätten nicht viele Eltern, Erzieherinnen, Lehrer, Therapeuten im kirchlichen Umfeld weggeschaut Die Personalverantwortlichen wären gezwungen gewesen, mit Tätern anderes umzugehen, als sie einfach nur zu versetzen. Vergleicht man die jetzigen Präventionsmaßnahmen mit dem, was vom Auftrag Jesu her möglich wäre, dann wirken diese kläglich.

Kinder mehr einbeziehen, Therapien für Gefährder

Ein dem Auftrag Jesu entsprechender Vorrang für die Kinder wäre die Antwort, zu der es eine Kirche bräuchte, die sich nicht nur aufrafft. Direkt umsetzbar sind folgende Maßgaben:

  1. Die Kinder differenziert sehen. Die schüchternen, ängstlichen im Blick haben, weil diese von den Tätern eher angesprochen werden. Neben Verhaltensauffälligkeiten findet man Anhaltpunkte in dem, was Kinder spontan malen.
  2. Die Kinder und Jugendlichen für Missbrauch sensibilisieren. Sie bekommen das früher mit als Erwachsene.
  3. Für Gefährder, also potentielle Täter wie für solche, die übergriffig geworden sind, an Kliniken kirchlicher Träger Abteilungen einrichten, so wie es die Charité gemacht hat.
  4. Wie u.a. die Polnische Kirche wäre es eine einfache Maßnahme, Ansprechpersonen für Gefährder und Täter einzusetzen.

Der Synodale Weg, wenn er nicht schon in Auflösung begriffen ist, sollte die Pfarreien radikal auf die jüngeren Generationen umsteuern. Pfarrliche Angebote werden einseitig für die über Fünfzigjährigen gemacht. Die Investitionen in Kindergarten, Religionsunterricht und kirchliche Schulen würden sich für die Pfarreien wieder lohnen, wenn sie wieder wie früher aktive Mitglieder aus diesen gut nachgefragten Einrichtungen bekommen. Bereits die Unter-50-Jährigen brauchen andere Kirchenräume mit anderen Gottesdienstformen, spirituelle Angebote und nicht so sehr Pfarrfeste. Die jetzige die Gottesdienstkultur für Kinder ist zu einem Rinnsal geworden. Noch weniger spielen die Kinder für die Umgestaltung der bisherigen Gemeinden zu Großpfarreien eine Rolle. Die Strukturen werden für die Senioren jetzt und nicht für die nächsten Generationen gemacht.

Zum Weiterlesen:
"The Female Choice", das Buch einer Biologin weist auf den Zusammenhang von Gewalt und Sexualität hin und erklärt auch noch, dass bereits im Tierreich die Männchen nicht nur mit geschlechtsreifen Weibchen kopulieren. Es ist eindeutig, dass die Sexualität nicht nur zu Machtmissbrauch sondern auch zu Gewalt führt. Die Autorin überträgt Verhaltensweisen im Tierreich auf eine globalisierte Gesellschaft, um eine neue Zivilisation aus dem Female Choice aufzubauen. Dazu gibt es demnächst einen Beitrag bei explizit.net

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